Ich sass im hinteren Teil, rechts aussen des fast vollen Hörsaals. Vor mir ein graumeliertes Haaremeer, ab und an unterbrochen durch eine Glatze, vereinzelt mal eine jüngere Person als ich oder ab und zu sass da sogar eine Frau. Ein gebildetes und an der Sache interessiertes Publikum.
Die Expertenrunde vorne auf dem Podium war vielversprechend, ohne Zweifel hochkompetent. Das Europainstitut der Uni Zürich hat je einen Juristen von Google und Facebook, jemanden, welcher am neuen Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NDG) in Deutschland mitgearbeitet hat, einen Vertreter des Bundes sowie einen ehemaligen Nationalrat eingeladen. Wunderbar soweit. Männer unter sich, fühlt euch wohl.
Groteske Besetzung
Fünf privilegierte, weisse Männer sprechen über Hatespeech, ein Problem, von welchem ausnahmslos Minderheiten und meist Frauen betroffen sind. Es war grotesk. Ein reines Männerpodium geht im Jahr 2018 nicht mal mehr dann, wenns um Motorsport geht. Ja, und gerade bei Hatespeech geht das ohnehin nicht. Denn da fehlt eine ganz wichtige Sichtweise.
Der Moderator der Diskussion, der ehemalige Chefredaktor der NZZ, Markus Spillmann, bemühte sich zu erklären, dass ganz, ganz viele Frauen angefragt wurden und leider alle abgesagt hätten. Mir kämen mindestens 30 Frauen, auch Nationalrätinnen, in den Sinn, welche sich auf diesem Podium wohl gefühlt hätten. Sie sollen sich bitte nächstes Mal zumindest bei der Ausrede mehr Mühe geben. Noch schlimmer hätte man die Besetzung nur noch mit einem männlichen Moderator, fünf männlichen Experten und einem weiblichem Opfer gestalten können. So aus Sicht der Emanzipation, finde ich.
Frauen als Hau-den-Lukas der Onlinewelt
Der ganze Internet-Dreck betrifft junge Frauen ganz stark, sie sind zum neuen Hau-den-Lukas der Onlinewelt geworden. Währenddem der Internet-Hass gegen Männer meist deren Kompetenz oder Intelligenz in Frage stellt, ist der Hass gegen Frauen in den allermeisten Fällen auf deren Körper oder die Sexualität bezogen. Hat eine Frau keine Modelmasse, kommt Bodyshaming ins Spiel. «Fette Sau» oder «hässlicher Besen» sind da noch harmlosere Begriffe, welche ein Mann nie zu hören bekommt.
Der Angriff gegen die Frau artet oft in sexueller Degradierung («Schlampe») oder dann dem Klassiker, der Vergewaltigungsandrohung, aus. Nach über einem Jahr Arbeit für #NetzCoruage und Unterstützung für Betroffene von Internethass sieht die Bilanz leider so aus, dass Frauen viel heftiger von Hatespeech betroffen sind als Männer. Sind es dann erst noch Frauen mit Migrationshintergrund, anderer Hautfarbe oder mit sexueller Orientierung oder Identität, welche nicht ins vorgefertigte Kästchen passen, multipliziert sich der Faktor des Hasses nochmals.
Was passiert nun also, wenn 6 vorwiegend ältere Herren mit Kravatte und Doktortitel über Internethass diskutieren? Dann klingt das in etwa so:
- «Es besteht leider die Tendenz zu strafrechtlich relevanten Äusserungen.»
- «Es ist unsere Pflicht, gemeldete und strafrechtlich relevante Inhalte vom Netz zu nehmen, ja.»
- «Facebook ist auf Meldungen von Usern angewiesen.»
- «Aber ohne Meldung gibts kein Tätigwerden.»
- «Wir führen sogar eine Terrorismusdatenbank.»
- «Es drohen uns Millionenbussen, wenn wir nicht tätig werden.»
- «Nein, in geschlossenen Gruppen können wir nicht überwachen.»
- «Bei Verleumdungen können wir ja nicht überprüfen, was wahr ist und löschen können wir auch nicht, wegen der Meinungsäusserungsfreiheit.»
- «Das Schweizer Strafrecht bietet genug Grundlagen, um gegen Hasskommentare im Netz vorzugehen – das hat der Fall des Kristallnachttwitterers ja gezeigt.»
Ich sass mehrmals leicht konsterniert auf meinem Stuhl und fragte mich, ob die das ernst meinen.
Terrorismusdatenbank, Millionenbussen, Verurteilung des Kristallnachttwitterers nach sehr aufwändigem Rechtsstreit vor Bundesgericht. Schön und gut. Aber was ist mit der Radikalisieung in den geschlossenen Gruppen? Was ist mit politisch motivierten Verleumdungen oder Fake-News, welche noch Jahre später im Netz gefunden werden.
Meldungen, die ins Leere laufen
Dass Facebook darauf angewiesen ist, dass Internet-Nutzer missbräuchliche Kommentare melden, ist nachvollziehbar. Das müsste im Prinzip eigentlich funktionieren und die Hürden dazu müssten möglichst klein gehalten werden. Was soll man aber tun, wenn diese Meldungen meist ins Leere laufen? Die Antwort stets heisst, die gemeldete Äusserung verstosse nicht gegen die Gemeinschaftsstandards? Und überhaupt, wenn doch da gar kein Ansprechpartner in der Schweiz ist, nichtmal eine Telefonnummer oder eine Adresse?
Ich meldete schon Androhungen, meine Wohnung in die Luft zu sprengen, perverseste Morddrohungen, Aufrufe zur Massenvergewaltigung durch politische Gegner, alles auf mich als Person bezogen. Leider waren diese Drohungen und Aufrufe alle auf Schweizerdeutsch geschrieben. Gelöscht wurde gar nichts. Ich vermute ein Verständnisproblem im Facebook-Löschzentrum in Norddeutschland.
Gesperrt aufgrund Counterspeech
Hingegen schrieb eine Freundin auf Facebook über die Schweizer, welche Trump in Davos hofierten: «Wenn es um Kohle geht kennen sie gar nichts. Charakter ist nicht ihre Stärke». Sie wurde heute deswegen 30 Tage von Facebook gesperrt. Letzte Woche habe ich meine 7-tägige Sperre abgesessen, weil ich eine Morddrohung eines anonymen Facebook-Nutzers gegen meine Kinder veröffentlichte. Letztes Jahr war ich mal gesperrt, weil ich mit Counterspeech auf das Treiben einer rechtsradikalen Gruppierung aufmerksam machte.
Wissen Sie nun, was ich mit praxisferner Expertenrunde zu Hatespeech meine?
Diese Regeln und diese Gesetze, gemacht und vertreten vorwiegend von Männern, können gar nicht adäquat auf das eingehen, was Frauen in Bezug auf Hatespeech erleben. Und solange Frauen nicht mitdiskutieren dürfen, erst recht nicht.
Es gibt Männer und Männer, genauso wie es Frauen und Frauen gibt. Ich bin jedenfalls froh, dass es Frauen wie Jolanda Spiess-Hegglin gibt,welche sich dem Anstand im Netz und in den Medien annimmt. Ich als Mann, bin selbst seit ich auf der Welt, am Üben es besser zu machen wie es mir meine Natur und Vererbung mitgegeben hat. Es war nicht immer einfach mich selbst unter Kontrolle zu halten. Impulsivität und Aggressivität waren bei mir immer ein Thema, auch Selbstzerfleischung um der Sache willen, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Obwohl ich immer ein “guter” war und nie jemandem körperlich oder finanziell geschadet habe, bereitet mir mein Testosteron ab und zu Probleme und ich möchte definitiv nicht mehr in meine Jugend zurück.
Fakenews und dergleichen sind leider zum grossen Geschäftsmodell geworden und das herunterspielen von wichtigen Debatten scheint den Leuten zu gefallen. Auch das anonyme beleidigen von irgendwelchen doofen politikern gefällt dem volk. Zumindest wenn man sich die Kommentare bei baz online oder ähnlichem anschaut. Wenn dann Frau wernli, durchaus eloquent, gegen das #meetoo schreibt, sieht man dass die Leute müde davon sind an Anstand und guten Umgang zu plädieren und trittbrettfahrer vermuten. Um sich möglichst abzusichern werden die grauen Herren wohl auch weiterhin unter ihresgleichen diskutieren und in technischer und rechtskonformer Sprache argumentieren.
Ich selbst mit 30er und männlich bin oft konsterniert wenn auch Mitarbeiter stammtischmeinungen wiederholen.
Ich muss zugeben, als ich nur die Schlagzeilen über Spiess Hegelin Las, dachte ich erst auch, dass da nur jemand in den Medien sein will. Bei näherer Betrachtung muss ich aber sagen: gute und wichtige Arbeit und bitte weiter so!
Morgen Frau Eglin
Und schon wieder bin ich beinahe meinen Instinkt gefolgt und hätte meine (negative) Meinung nach 5 Sätze gebildet 😉.
Auf diesem sehr interessanter Blog bin ich durch einen Artikel in Le Temps aufmerksam geworden.
Danke für Ihre Arbeit und Ihren Einsatz.
Nach vollständigeren Lektüre, bin ich mit Ihnen über die verschiedenen angesprochenen Themen 1000% einverstanden.
Ich vermisse jedoch einige Vorschläge.
Gibt es eine Lösung? Die Geschichte lehrt uns das die Linie zwischen Überwachung und Schnüffelei seh sehr dünn ist.
Ich habe schon längst drauf aufgegeben, dass Facebook / Twitter ihre Verantwortung selbstlos wahrnehmen.
Revolutionen kommen ja per Defimitiom von aussen.
Man muss bedenken, dass alle negative Aspekte von einem Staat aus anfänglichen gut gemeinten Absichzem hervorgerufen sind und letztendlich zu widrigen Gestalten umgesetzt worden sind.
Grundsätzlich könnte man z.B. sagen Zensur in China ist gut und schütutbdie Gesellschaft.
Die iranische „Republik“ hat den Sah abgelöst
Fischen sollten Terroristen früh erkennen lassen
Ich selber habe nur 2 Spur:
1. sobald die Anonymität verschwindet, dann kontrolliert sich der Mensch. Wir sind ja (bis auf einige 😕) soziale Lebewesen.
Hinter jedem Acvount sollte mMm das Gesetz (Inder Schweiz) eine Identität verlangen (für die Behörden bei Beschwerden)
2. Wenn unsere PC‘s, Smartphone usw einige Schimpfwörte ausradieren würden, wäre es auch hilfreich (das ist ja heute problemlos)
Danke für die Aufmerksamkeit 😉
Sehr geehrte Fraue Spiess Hegglin.
Sehr interessanter post. Als Person mit Migrationshintergrund und selbst erlebtem online Hass bewundere ich Ihre Arbeit und die Aufmerksamkeit, welche Sie auf das Thema hier in der Schweiz werfen. Bitte mehr Artikel posten, danke!
Guten Tag Frau Spiess-Hegglin
ich habe soeben Ihren Artikel im Tages-Anzeiger gelesen. Ich hoffe ich erreiche Sie hier über diese webpage.
Super wie Sie mit dieser Situation umgehen, gratuliere. Ich bin stolz, dass wir mit Ihnen eine weitere starke Frau haben in der Schweiz.
Ich bin ein 53-jähriger Mann und finde es absolut daneben, was ich alles an Frauenverachtendes höre und erlebe in meinem Umfeld. Wo immer ich die Möglichkeit habe, versuche ich direkt zu intervenieren.
Sie haben meinen vollsten Respekt und Sie dürfen stolz auf sich sein, dass Sie so gestärkt aus dieser sehr schwierigen Lebenssituation aussteigen durften. Ich hatte auch sehr schwierige Lebensphasen gehabt (öffentliche Ächtung etc) und musste auch lernen, nicht Gegendruck zu erzeugen mit Kampf etc, sondern cleverness walten lassen und das Gegenüber quasi mit den eigenen “Waffen” schlagen. So wie Sie das im TA Bericht beschrieben haben. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Zukunft, viele Magic Moments und vor allem viel Kraft und Energie, um Ihre posttraumatische Belastungsstörung weiterhin gut zu verarbeiten.
Herzliche Grüsse
SZ